In der Weihnachtszeit des vergangenen Jahres 2021 nahmen wir uns vor, die weit entferntesten Regionen in Bolivien zu besuchen. Wir kamen in Cocayapo nach 8 Fahrstunden an und hatten viele Dinge bei uns, die wir verteilen wollten.
Gleich am nächsten Tag klopfte sehr zeitig eine Señora Martha an unsere Tür und fragte uns, ob wir auch das Sakrament der Taufe spenden würden und die Antwort war: „Natürlich! Kommen Sie doch gemeinsam mit ihrem Ehemann und den Taufpaten zu dem Taufgespräch!“
Nach dieser Antwort merkte man gleich, dass dies nicht der Hauptgrund ihres Besuches war. Martha begann zu weinen. Als immer mehr Menschen zu uns kamen, fühlte sie sich unbehaglich und Madre Augusta schlug ihr vor, ob wir sie doch nicht in ihrem Haus besuchen könnten, worauf sie zustimmte.
Nachdem wir uns um die angekommenen Menschen gekümmert hatten, machten wir uns gemeinsam mit Doña Martha auf den Weg. Dabei zählte sie die Namen ihrer Nachbarn auf, zeigte uns die Wege, wie wir zu ihnen gelangen könnten, weil jedes Haus für sich sehr weit entfernt von den anderen liegt.
Als wir schließlich bei ihrem Haus ankamen, erwarteten uns schon ihre 7 Kinder. Die Kinder in ihren alten Kleidern, sie alle in Reih und Glied so stehen zu sehen, hinterließen einen prägenden Eindruck. Der Älteste war Israel mit seinen 14 Jahren, und die Jüngste, die noch nicht einmal ein Jahr alt war, lag in den Armen ihrer 12-jährigen Schwester Mayte. In allen Gesichtern spiegelte sich eine abgrundtiefe Traurigkeit.
Ihr Häuschen war sehr armselig, die Küche lag unter einer sehr einfachen und zerbrechlichen Plane. Martha lud uns trotz ihrer Armut ein und wir aßen ein Maisgericht. Nachdem sie es uns auftrug, fragte Madre Augusta, welches ihr Problem sei. Sofort brach sie in Tränen aus und weinend erzählte sie uns ihre bewegende Geschiche:
Die Regierung von Bolivien hat in einem Gesetz erlassen, dass jedes Kind eine Schulbildung erhalten muss. Darüberhinaus haben alle, die weit entfernt von einer Schule leben, die Möglichkeit, in einem Internat zu wohnen, und zwar von Montag bis Freitag. Der älteste Sohn Israel hatte auf Grund des Gesetzes seine Schulausbildung aufzunehmen, an einer Schule die zu Fuß 3 bis 4 Stunden entfernt lag. Im Internat bekam er eine Schlafmöglichkeit und Essen. Da er sehr arm war, hatte er keine Schulsachen und wegen seiner Unterernährung konnte er sich kaum konzentrieren.
Israel, der nur eine kurze Zeit am Unterricht teilnahm, eröffnete bald seinen Eltern, dass er nicht weiterlernen wolle und gab keinen Grund dafür an, warum er der Schule fernblieb. Und bald schon ließ der Vorstand die Eltern wissen: „Wenn ihr Sohn, weiterhin der Schulausbildung fernbleibt, ist eine Strafe von 1000 Bolivanos, das 200 Euro entspricht, fällig.“ Die Eltern Jose und Martha baten ihren Sohn inständig, weiter die Schule zu besuchen, aber er weigerte sich.
Über Doña Elizabeth, eine Mitarbeiterin im Internat erfuhren die Eltern später, dass der Lehrer zu Israel gesagt hatte: „Wenn du schon keine Schulsachen (Hefte, Bücher, Stifte …) hast, wozu kommst du überhaupt in die Schule?“ Das war also der Grund für die Verweigerung.
Die Familie war in der Tat sehr arm, sie hatten einige Schafe und der Mais, den sie anbauten, reichte gerade für die Selbstversorgung. Sie besaßen kein eigenes Land und somit war es klar, dass sie kein Geld hatten, um Schulsachen zu kaufen, und noch weniger war es ihnen möglich, die Strafe zu zahlen.
Nach Ablauf der Zahlfrist kam vom Vorstand ein neuer Brief, und diesmal war der Betrag noch höher. Und man verwies auf Sanktionen, die erfüllt werden mussten. Doch woher sollte man so eine hohen Geldbetrag holen?
Don Jose, sehr besorgt über diese Situation beschloss in der nächstgelegenen Stadt Camargo eine Arbeit zu suchen. Zu Fuß braucht man 3 Tage, natürlich gäbe es auch Fahrverbindungen, aber dafür reichte das Geld nicht. Der arme Mann beschloss zu Fuß nach Camargo zu gehen und um sich Mut anzutrinken, kaufte er sich eine Flasche Likör. Er durchschritt einsame Berge und als die Nacht hereinbrach, schlief er etwas benebelt ein und zwar am Rande des Weges. Als er in der Früh erwachte, war es ihm sehr kalt, er fand einige Streichhölzer in seiner Tasche, nahm etwas Stroh und machte Feuer, um sich zu wärmen. Zu seinem Unglück kam ein Windstoß und das Feuer breitete sich aus. Er versuchte es zu löschen, aber ohne Erfolg! Er nahm seinen Weg wieder auf und traf am Vormittag unterwegs Don Juan, der ihn dann wohl wegen Brandstiftung angezeigt haben muss.
Nachdem er in der Stadt keine Arbeit gefunden hatte, kehrte er nach einigen Tagen wieder nach Hause zurück. Mit großem Schrecken fand er eine polizeiliche Benachrichtigung vor, die ihn wegen Brandstifung von Feldern, Wäldern und Landhäusern anklagte.
Es stimmt, dass es dort das eine oder andere Haus gibt, aber dort lebt kein Mensch, sie dienen nur zum Unterstand für Tiere, wenn es regnet. Es ist auch wahr, dass er ohne es zu wollen diesen Hügel abgebrannt hatte. Auf der anderen Seite des Hügels, kam es auch zum Brand, aber verursacht durch eine andere Person und weil diese Person Geld hatte, kam es bei diesem Vorfall nicht zur Anzeige. In Wirklichkeit gibt es dort auch keinen Wald und das Strohhaus, das abbrannte, stand im Innern leer. Don Jose, der nur Quechua spricht, hatte Schwierigkeiten sich richtig auf spanisch auszudrücken und so konnte er sich nicht verteidigen. Nach der zweiten poizeilichen Benachrichtigung wurde er abgeführt und ins Gefängnis gebracht.
Dona Martha erzählte uns unter Schluchzen: „Mein Mann ist schon seit 15 Tagen nicht mehr bei uns, und ich weiß nicht, wo er ist und wie es ihm geht. Die Polizei hat ihn einfach abgeführt und da ich kein Telefon habe, kann ich nicht mit ihm reden. Wir hatten ausgemacht, dass er sich beim Telefon unseres Nachbarn melden würde, aber er hat noch nicht angerufen.“ Und viele Tränen flossen, und alle Kinder standen mit großer Traurigkeit um ihre Mutter. Alle wussten, dass ihr Papa im Gefängnis war.
Nachdem wir diese traurige und schwierige Situation gehört hatten, blieb uns nur noch die Zuflucht zu unserem Göttlichen Richter, der alles weiß. Wir segneten ihr Haus, beteten gemeinsam den Rosenkranz für Don Jose, und flehten Gott an, Er möge doch bitte die Gebete der Kinder erhören.
Israel, der lange Haare hatte, was etwas unüblich bei Jungen in dieser Gegend ist, schien mit seinen Haaren die jungen, modernen Menschen der Stadt zu imitieren.
Madre Melania sagte zu ihm: „Israel, lass dir doch die Haare schneiden, sonst kann ich dich ja gar nicht richtig von deiner Schwester Mayte unterscheiden, wenn ihr beide zusammen vor mir steht.“ Er schaute mich daraufhin an und lächelte. Er fragte mit leiser Stimme Madre Augusta: „Könnten Sie mit die Haare schneiden?“ „Natürlich! Israel, willst du dass Madre Augusta dir die Haare schneidet?“ Der Junge nickte zustimmend und Madre Augusta begann voller Tatendrang ihm die Haare zu schneiden. Nach getaner Arbeit, stand ein fescher junger Israel vor uns und er war sehr erleichtert. Der Grund, warum er lange Haare hatte, war, dass es hier keinen gab, der es ihm hätte schneiden können und für ein Haarschnitt beim Friseur war kein Geld vorhanden.
Schließlich verabschiedeten wir uns von der Familie und luden sie ein, dass sie doch abends zum Gebet in die Kirche kommen mögen und wir immer für sie da sind, wenn sie Kleidung und Nahrungsmittel bräuchten.
Nun machten wir uns auf den Weg zu ihren Großeltern und bald darauf überraschte uns dort Israel, unterbrach unser Gespräch und rief, indem er sich die Mütze vom Kopf nahm: „Schau, Mamita.“ Und schon lief er weiter zu seinem Cousin, eine Vollwaise von 12 Jahren, der gerade dabei war mit dem Ochsen die Erde zu pflügen, und auch diesem berichtete er voller Freude über den neuen Haarschnitt.
Dies ist eine der vielen Wirklichkeiten, mit denen wir leben müssen und wo wir große Grenzen aufgezeigt bekommen und Machtlosigkeit. Die Armut hindert ein Kind zu überleben, und erschwert sein Entwicklung in all seinen Aspekten, sei es physisch,mental, emotional, kulturell, sozial, familiär oder spirituell. Und deshalb versuchen wir ihnen zu helfen.
Möge Gott, reich an Erbarmen dieser Familie Trost spenden. Bei dieser Gelegenheit danken wir allen Menschen, die uns bei unserer Mission sowohl finanziell als auch spirituell unterstützen. Gott möge Sie segnen und es Ihnen reichlich vergelten!
Liebe Wohltäter, möge Gott, reich an Erbarmen dieser Familie Trost spenden! Als Missionarinnen sendet Gott uns aus, uns um seine Schafe in diesen abgelegenen und verlassenen Orten zu kümmern, die von der Zivilisation abgeschnitten sind. Mit Ihrer Hilfe können wir ihre materielle Armut lindern, wofür wir sehr dankbar sind. Möge der Heilige Geist Ihnen seine Gaben schenken. Für dieses Anliegen beten wir alle Missionarinnen vom lehrenden und sühnenden Heiland.
Gesegnete Grüße!
Ihre Madre Augusta und Madre Melanie MJVV